Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, einer Online-Diskussion über Kornkreise beizuwohnen. Einige Teilnehmer der Diskussion waren fest überzeugt, dass diese Kreise nur von Außerirdischen erzeugt werden können. Also habe ich auf das Sparsamkeitsprinzip oder Ockhams Rasiermesser hingewiesen. Schnell erklärte mir jemand, dass demnach ja die einfachste Erklärung richtig sein müsse. Und Außerirdische schienen ihm die einfachste Erklärung zu sein, denn ein so perfektes Gebilde wie ein Kornkreis ließe sich von Menschen nur mit einem enormen technischen und logistischen Aufwand innerhalb einer Nacht anfertigen.
Doch genau das ist nicht Wilhelm von Ockhams (1288–1347) Aussage. Vielmehr versuchte er darauf hinzuweisen, dass bei der Suche nach einer möglichen Erklärung für ein Phänomen möglichst wenige Zusatzbedingungen (Entitäten) eingeführt werden sollen, für die wiederum Erklärungen erforderlich sind.
Schauen wir uns das am Beispiel der Kornkreise an.
Erklärung 1: Ein paar Leute sind mit Brettern, Seilen und Pflöcken über den Acker gestampft.
Erklärung 2: Bisher unbekannte Gravitationswirbel haben das Getreide in einer bestimmten Form zu Boden gedrückt.
Erklärung 3: Intelligente Außerirdische, die in der Lage sind, überlichtschnell riesige Entfernungen zu überwinden, wollen uns eine Botschaft zukommen lassen und haben sich dafür entschieden, mit Hilfe eines unbekannten Prozesses Formen auf unsere Felder zu malen.
So aufgelistet, ist die Präferenz schon erkennbar. Selbst wenn wir argumentieren, dass einfache Werkzeuge nicht genügen, um komplexe Kornkreisformen zu erzeugen, können wir relativ einfache Zusatzbedingungen einführen, etwa die Verwendung eines GPS-Empfängers für die genaue Positionierung der Ornamente oder eines Multicopters, um das Ergebnis zu kontrollieren.
Die Gravitationsanomalie erscheint wie eine einfache Lösung, aber setzt voraus, dass solche Wirbel bereits bekannt sind und dass sie in der Lage sind, Getreide an diesem Ort und in dieser speziellen Form zu zerknicken. Da ein derartiges Phänomen bisher nicht beobachtet wurde, müssen wir dafür eine ganz neue Theorie aufstellen.
Im Falle der Außerirdischen ist die Liste der Zusatzbedingungen schier endlos.
Ockhams Rasiermesser bedeutet allerdings auch nicht, dass die Lösung mit den wenigsten Zusatzbedingungen richtig sein muss. Wir können uns jedoch eine Menge Arbeit sparen, wenn mit mit dieser Lösung anfangen und sie genauer auf Plausibiliät untersuchen. Erweist sich die Hypothese nach wissenschaftlichen Kriterien als brauchbar und belastbar, können wir alle aufwändigeren Hypothesen verwerfen.
Es geht also schlicht darum, kognitive Energie zu sparen. So macht kritisches Denken das Leben einfacher.
Auszug aus Ware Hoffnung, Kapitel 12 „Werkzeug“:
»Aber wie kann ich denn erkennen, ob es sich bei solchen Geschichten um eine Tatsache oder eine kreative Erzählung handelt?«, wollte Ricardo wissen.
»Du kannst es eigentlich nie völlig zweifelsfrei wissen. Das heißt aber nicht, dass alles gleichermaßen möglich und wahrscheinlich ist. Wenn du nicht vorhast, alles über das jeweilige Thema zu lernen, um dir ein solides Urteil bilden zu können – wobei du selbst dann nicht hundertprozentig sicher sein kannst – dann musst du erst einmal andere Methoden anwenden. Ockhams Razor ist für den Anfang ganz nützlich.«
»Und was kann dieses Rasiermesser alles?« hakte Ricardo nach.
»Nehmen wir einen der Fälle, die du erwähnt hast. Da behauptet jemand, aus Gravitationskraft, aus der Erdanziehung, Energie erzeugen zu können. Die Physik sagt: Das geht nicht, weil Gravitation ein konservatives Feld ist. Du kannst Energie in ein Objekt stecken, indem du es hochhebst. Wenn es dann herunterfällt, gibt es genau diese Energie wieder ab. Die Summe ist null. Jetzt kommt jemand und erzählt, er habe aber doch eine Möglichkeit gefunden und eine Maschine gebaut, die von der Schwerkraft angetrieben wird. Die hat er in seinem Keller stehen und nach uralten Plänen konstruiert, die zwar streng geheim sind, aber irgendwo im Internet auf einer bunten Seite mit vielen Rechtschreibfehlern zum Verkauf angeboten werden. Vorführen kann er die Maschine nicht, weil noch ein wichtiges Bauteil fehlt, das leider zufällig nicht lieferbar und außerdem das Quantenfeld gerade nicht in Resonanz ist. Und niemand vor ihm hat es bisher gewagt, so eine Maschine zu bauen, weil man dann sofort bedroht oder gar ermordet würde. Außerdem hätten sich Wissenschaftler an dieses Geheimnis nicht herangetraut, weil sie um ihre Reputation fürchteten.«
»Ja, so ungefähr sehen diese Geschichten aus«, bestätigte Ricardo.
»Gut«, fuhr Ragnar fort. »Jetzt stellst du einfach die Menge der notwendigen Erklärungen beider Seiten nebeneinander. Du machst eine Liste, was für und was gegen diese Behauptung spricht. Links steht: Der Typ spinnt. Rechts steht: Eine weltweite Verschwörung sorgt seit Jahrhunderten dafür, dass dieses Wissen geheim geblieben ist. Die gesamte Physik ist ein einziger Irrtum, was aber ebenfalls verschwiegen werden muss, um Aufstände zu verhindern und die Menschheit dumm zu halten. Alle Physiker, Lehrer, Konzernchefs und Regierungen sind eingeweiht, verheimlichen aber die Wahrheit. Nur die Leute von der bunten Website haben davon erfahren und verkaufen dieses Wissen nun für neunundneunzig fünfzig Vorkasse als dreiseitige PDF-Datei. Natürlich anonym, weil sie sonst ebenfalls um ihr Leben fürchten müssten.«
»Na gut, ich sehe, wo das hinführt«, nickte Ricardo. »Gesunder Menschenverstand.«
»Nein, eben nicht«, widersprach Ragnar. »Der ist ja nicht allgemeingültig, weil er bei jedem Menschen zu einem anderen Ergebnis führt, je nach Prägung, Bildung, Erwartung, Intuition und weiteren Faktoren. Was du brauchst, ist etwas, das möglichst unabhängig von der eigenen Wahrnehmung ist. Ich behaupte nicht, dass du damit zur endgültigen Wahrheit findest. Das geht überhaupt nicht. Aber so gewinnst du einen Wahrscheinlichkeitswert, von dem aus du dich weiter orientieren kannst. Heuristik ist das Stichwort. If it sounds too good to be true, it probably is, in Kurzform. Wörtlich heißt es: Von mehreren möglichen hinreichenden Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen«, erklärte Ragnar und fuhr fort:
»Ja, vielleicht gibt es diese riesige Verschwörung, wie es schon viele Verschwörungen gab. Es sieht eben nur nicht danach aus, weil die Erklärung zwingend eine große Menge gesicherten Wissens für ungültig erklären würde und unzählige Nebenbedingungen erfordert. Es ist einfach extrem unwahrscheinlich. Letztendlich ist es eine Frage der Ökonomie. Die komplizierte Variante verursacht einen enormen Aufwand, wird dich aber voraussichtlich nicht zum Ziel bringen. Deshalb musst du sie aber trotzdem nicht vollständig ablehnen. Du legst sie einfach beiseite und beschäftigst dich mit Dingen, die dir plausibler erscheinen. Ich vermute, auch dein Chef dürfte das zu schätzen wissen.«
»Oh ja, tut er«, grinste Ricardo. »Sehr sogar.«
Links:
Wikipedia: Ockhams Rasiermesser
GWUP-Blog: Kornkreise und Paranormales: Ist die GWUP gegen alles?
Kategorie: Kritisches Denken
Themen: Aliens, Außerirdische, Kornkreise, Occams Razor, Ockhams Rasiermesser, Sparsamkeitsprinzip