Ein Roman über Pseudowissenschaft
und kritisches Denken
Ulli Gerer
Ware Hoffnung
Blog

Nachtschicht

»Wir brauchen Ergebnisse! Verstehst du das, Torres? Und wir brauchen sie schnell!«

Wenn Masoud derart erregt war, erinnerte er ein wenig an Wachtmeister Dimpfelmoser aus der Räuber-Hotzenplotz-Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Sein Unterkiefer wirkte dabei unnatürlich breit, als ob seine Wangenknochen plötzlich an den Seiten seines Gesichtes heruntergerutscht wären. An seinen Schläfen bildeten sich kleine rötlich-blaue Flecken, die durch ihren leicht feuchten Glanz besonders bedrohlich wirkten.

Ein riesiges, strahlend weißes Kreuzfahrtschiff legte wie in Zeitlupe vom Passagierterminal ab und in der beginnenden Dämmerung leuchtete es farbenreich durch die vollflächig verglaste Fassade in Masouds Büro hinein. Das gab der Szenerie eine fast filmreife Kulisse. Einige immerhungrige Möwen erkundeten in langgezogenen Bögen schwebend die Achterdecks des schwimmenden Hotels und hielten Ausschau nach fütterwilligen Passagieren.

Während der kurzen Stille, die Masouds stimmgewaltigem Ausbruch folgte, pressten sich seine Handflächen gegen die dicke Glasplatte des breiten und stets leeren Schreibtisches. An den Rändern seiner kräftigen Finger bildeten sich kleine Kondensflecken, welche die kalt wirkenden, punktförmigen Lichtreflexionen der unangemessen teuer wirkenden Designer-Deckenleuchte weichzeichneten.

Die Tatsache, dass er Ricardo Torres beim Nachnamen nannte, betonte deutlich, wie sehr er gerade unter Druck stand. Und wie die meisten Vorgesetzten verstand er es, diesen Druck an seine Angestellten weiterzugeben. Immerhin sagte er wir statt ich, was darauf hindeutete, dass er diese Aufgabe durchaus als gemeinsame Herausforderung betrachtete.

»Du bist wirklich mein bester Mann, Ric«, setzte er etwas versöhnlicher fort. »Ich habe dir diesen Auftrag gegeben, weil du eine enorm gute Nase hast. Und genau die brauchen wir jetzt. Es muss eine Sensation werden, ein richtiger Knaller, ein Ding, das die Welt nachhaltig verändern wird. Ich weiß, du kannst das. Sei kreativ! Suche dort, wo niemand zuvor gesucht hat! Es geht um enorme Summen! Ich verlasse mich auf dich.«

Man konnte nicht behaupten, dass Masoud Hayats wirtschaftlicher Erfolg sein alleiniger Verdienst gewesen war. Sein Vater, Hassan Hayat, hatte vor fast fünfzig Jahren begonnen, mit diversen Rohstoffen zu handeln und sich mit der Zeit auf Öl und Erze spezialisiert. Wie weit sein Vermögen inzwischen angewachsen war, ließ sich kaum ermessen, da er es vorzog, nach außen eher bescheiden zu wirken. Es musste auf jeden Fall genug sein, um ihm die Türen zu den exklusivsten Unternehmerclubs der Stadt zu öffnen.

Von Masoud als jüngstem Sohn der Familie wurde nicht erwartet, in das väterliche Imperium einzusteigen. So kam es, dass er nach dem Studium, mit einem üppigen Startkapital ausgestattet, sein Glück in der internationalen Finanzwelt suchte. Dabei ließ er sich schon früh von seiner Leidenschaft für neue Technologien leiten. Seine erste selbstverdiente Million resultierte aus geschickten Investitionen in die damals an allen Ecken auftauchenden Hersteller von Heimcomputern. Wie sich herausstellte, waren aber nur wenige echte Perlen dabei und so erfuhr er schon bald, wie schnell sich ein Vermögen wieder verflüchtigen kann.

Ricardo Torres verstand Masouds letzten Satz als Ende des für dessen Verhältnisse ungewöhnlich lange dauernden Monologes, stand auf, tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe, um sich zu verabschieden und gleichzeitig zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Wortlos verschwand er aus dem weitläufigen Büroraum durch die halbverspiegelte Tür.

»Und?«, fragte Jennifer mit leicht angehobenen Augenbrauen, während sie von den endlosen Zahlenreihen auf ihrem Monitor aufschaute. Mit verständnisvollem, fast mitleidigem Blick folgte sie Ricardos Schritten, als er an ihrem Stehtisch kurz vor dem Ausgang des Großraumbüros vorbeilief. Nach mehr als zwanzig Jahren in dieser Firma hatte sie ein feines Gespür dafür, wie sie den Gemütszustand jener Menschen zu beurteilen hatte, die das Büro ihres Chefs verließen. Besonders, wenn es wieder einmal lauter wurde.

»Ach, die übliche Panik. Sieht nach Nachtschicht aus. Ich mache zu Hause weiter. Schönen Feierabend, Jenny.«

Als Ricardo die Tür des Lofts mit seiner Smartwatch entriegelte, war es draußen bereits stockdunkel. Die Tage wurden stetig kürzer und mit jeder Minute weniger Tageslicht verdichtete sich in ihm das Bedürfnis, in einen tiefen Winterschlaf zu verfallen und der täglichen Jagd nach dem nächsten großen Ding zu entfliehen.

Die kleine blaue Leuchte an seinem Arbeits-Tablet blinkte aufgeregt und erhellte die hohe weiße Decke über dem Schreibtisch in kurzen Intervallen. Eine Nachricht aus der Firma. Ricardo tastete nach dem gläsernen Sensorfeld neben der Eingangstür und regelte die Raumbeleuchtung gerade so weit hoch, dass er sich orientieren konnte. Aus dem Schlafzimmer drang ein leises Schnurren an sein Ohr. Zaphod, Ricardos grauweißer Perserkater, schlief schon fest. Beneidenswert. Die Nachricht konnte bis nach dem Essen warten.

Mit einem dampfenden Espresso ausgestattet, setzte sich Ricardo an den Schreibtisch und schaltete das Tablet sowie die weit ausladende, verchromte Schwenkleuchte ein. Links und rechts neben ihm stapelten sich Mappen, Dossiers, Bankauskünfte, Bewerbungen, Prospekte und Businesspläne.

Du hast eine Woche Zeit!, dahinter ein unidentifizierbares Emoji.

Er wischte die Nachricht vom Schirm und verband sich mit dem Bürorechner.

»Was haben wir denn bisher …?«, murmelte er in seine Espressotasse, öffnete die Materialsammlung und ging die einzelnen Einträge durch. Eine Fitness-App, ein Online-Lieferdienst für Sanitätsartikel, ein Massagebett mit Vitalsensoren und Cloudanbindung, ein E-Bike mit Bluetooth, Mobilfunk und GPS, ein auf Klassik spezialisierter Musikdienst mit Transkriptionen, diverse Software-Entwicklungen für Finanztransaktionen, Gadgets für Smart-Home-Systeme und viele weitere große und kleine Ideen von Start-ups, aber auch von etablierten Technologieanbietern aus aller Welt.

Die meisten Kandidaten hatten sich direkt bei ihm beworben, einige hatte er über Pressemeldungen oder Business-Netzwerke gefunden. Allen war eines gemeinsam: Sie brauchten Geld. Eine echte Sensation, wie Masoud sie sehen wollte, war nicht dabei.

Ricardo nannte sich Investment Scout. Seine Aufgabe war es, junge, erfolgversprechende Firmen oder Produkte zu finden, um sie mit Liquidität zu versorgen, also sich an ihnen zu beteiligen oder ihnen Financiers zu vermitteln. Dabei hatten die Empfänger des Geldregens weitgehend freie Hand bei der Umsetzung ihrer Projekte.

Einige dieser Neuentwicklungen wurden außerordentlich erfolgreich und bescherten der Angel Business Capital, Ricardos Arbeitgeber, beträchtliche Renditen. Andere Unternehmungen hatten weniger Geschick und schafften es immerhin irgendwann aus eigener Kraft, die Einlagen ordentlich verzinst zurückzuzahlen. Ein großer Teil jedoch kam nie über das Gründerstadium hinaus und verschwand früher oder später mitsamt dem eingesammelten Kapital, meistens durch Konkurs. Dennoch war es ein enorm rentables Unterfangen, mehrere dieser Investitionen zur Risikostreuung in Fonds zu bündeln und an stets provisionshungrige und wagemutige Wertpapierhändler zu verkaufen.

Die internationale Finanzkrise hatte die Branche nun sehr unter Druck gesetzt. Das große Geld saß nicht mehr so locker wie zuvor, risikobehaftete Anlagen wurden besonders intensiv geprüft und mussten oft stabileren und eher konservativen Finanzprodukten den Vortritt lassen. Das war der Grund für Masouds gereizten Zustand.

Nur mit einer echten Sensation ließe sich das Vertrauen und die Aufmerksamkeit der Händler zurückgewinnen.

Zuerst kitzelte es an Ricardos Nase. Dann an den Ohren. Plötzlich fiel ihm das Atmen schwer und er wachte widerwillig aus seinen unruhigen Träumen auf. Er war, wie er bemerkte, auf der Ledercouch eingeschlafen. Irgendetwas drückte kantig in seinen Rücken und sein Gesicht war von einer warmen, wolligen Masse bedeckt. Zaphod forderte ihn unmissverständlich auf, endlich dieses unnütze Rumgeliege zu beenden und für ein angemessenes Katzenfrühstück zu sorgen.

Ricardo fasste unter den Kater und hob ihn behutsam auf den weißen Läufer, wo er mit schiefgelegtem Kopf und erwartungsvollem Blick laut maunzend sitzen blieb. Wie spät? Die Smartwatch reagierte nicht. Natürlich hatte er vor dem Einschlafen vergessen, sie auf das Ladepad zu legen. Die bläulich glimmende Uhr am Backofen zeigte kurz nach acht. Er griff umständlich unter sich und angelte das Tablet mit zwei Fingern aus der Sofaritze. Weniger als vier Stunden Schlaf. Das sollte in der kommenden Woche keine Seltenheit bleiben.

Seit seinem Ausstieg bei der Future Investment Transglobal war Ricardos Alltag deutlich ruhiger geworden. Als Strukturierer hatte er dort eine Menge Geld verdient, und das in vergleichsweise kurzer Zeit. Es war ein Leben auf der Überholspur, mit Vollgas, ohne Gurt. Immer gab es zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, ständigen Zeitdruck, Misserfolge waren nicht vorgesehen.

Die Finanzmärkte kannten keine persönlichen Schicksale, keine Unpässlichkeiten, erlaubten keine Schwächen. Moralische Bedenken waren etwas für fragile Charaktere. Nur starke, durchsetzungsfähige Persönlichkeiten hatten dauerhaft Erfolg. Ein Erfolg, der sich gewöhnlich in harten Zahlen messen ließ, garniert mit Anerkennung von Vorgesetzten, Bewunderung von Kollegen und bisweilen auch Neid, wenn es einem gelang, einen besonders lukrativen Deal einzufädeln und ein Produkt vor der Deadline zu komplettieren.

Der Job bei Masoud war dagegen eine Spazierfahrt und ließ sich auch ohne bewusstseinserweiternde und aufputschende Substanzen bewältigen. Natürlich gab es ebenfalls Closings, wie Termine für den Abschluss einer Akquisitionsrunde hier genannt wurden. Auch Erfolgsdruck und hohe Erwartungen waren üblich. Trotzdem fühlte sich Ricardo in der Firma gut aufgehoben. Auf ein angenehmes Betriebsklima wurde sorgfältig geachtet, alle nannten sich beim Vornamen. Das knapp dreißigköpfige Team nahm sich die Freiheit, gelegentlich gemeinsam während der Arbeitszeit zu feiern, zog regelmäßig in kleinen Gruppen durch die besseren Clubs der Stadt und selbst in anstrengenden Meetings war die Stimmung auffallend gelöst.

Sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn hatte Ricardo hierhergeführt. Im Finanzinstitut hatte er nie das Gefühl, wirklich etwas außer Geld bewegen zu können. Die Menschen und Schicksale, die untrennbar mit seinem Handeln verbunden waren, bekam er nie zu Gesicht. Wer es nicht schaffte, diesen Teil der Tätigkeit vollständig auszublenden, wurde früher oder später unvermeidbar damit konfrontiert, dass hier Lebenswege von Menschen beeinflusst wurden, die sich kaum dagegen wehren konnten, dass man mit einem Mausklick ihre berufliche Existenz gefährden oder eine Altersversorgung vernichten konnte und die Macht besaß, über Leben und Tod zu entscheiden. Das war bei Angel Business anders. Hier ging es darum, Menschen und Chancen zusammenzubringen. Es war ein Handel mit Hoffnungen.

Der Kaffeeautomat zerbiss angestrengt ratternd die schwarzen Bohnen. Ricardo öffnete den Cloudspeicher, um sich die Arbeit der Nacht anzusehen. Das Frühstück musste warten. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, würde er im Café gegenüber eine Kleinigkeit essen und dabei weiterarbeiten. Suche dort, wo niemand zuvor gesucht hat! waren Masouds abschließende Worte. Das war einfacher gesagt als getan. In einer vernetzten Welt verbreiteten sich Informationen so zügig, dass es kaum möglich war, sich alleine durch schnelle Reaktion einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Ricardo musste einen Schritt weitergehen und dort suchen, wo neue Ideen keimten, wo bisher unbekanntes Terrain erkundet, wo Wissen geschaffen wurde, das so jung und so komplex war, dass es zunächst nur wenige Menschen verstanden.

Der Rapid Science Ticker eignete sich bestens, um einen ersten Überblick zu gewinnen. Zwar handelte es sich bei dieser Seite um einen offenen Verteiler ohne Redaktion, aber auf den ersten Blick wirkte die Sammlung wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Pressemeldungen vielversprechend. Biotechnologie, Elektronik, Materialforschung, künstliche Intelligenz, Astronomie, Chemie, Teilchenphysik, Medizin – das gesamte Spektrum naturwissenschaftlicher Forschung von der Theorie bis zur Anwendung war hier vertreten. Auch wenn einige Einträge erkennbar werblichen Charakter hatten, sollte dies das Tor zu völlig neuen Bereichen des Wissens für Ricardo werden und damit der Weg zur Lösung seines Problems. Konnte es so einfach sein?

In der nächtlichen Sammlung fanden sich viele Links auf weiterführende Abhandlungen, Lesezeichen zu Präsentationsseiten von Start-ups, einige Papers und Studien mit Grundlagenforschung sowie diverse Patente und Patentanmeldungen. Daneben hatte Ricardo mehr oder weniger verständliche Notizen gespeichert, die stichwortartig zusammengefasste Gedankengänge und Erinnerungen enthielten sowie kurze Texte, in denen er versuchte festzuhalten, was er von einem Thema verstanden hatte. Ein grundsätzliches Interesse für Naturwissenschaften hatte er immer gepflegt und regelmäßig aktuelle, eher laientaugliche Magazinartikel aus der Forschung gelesen. Weitergehendes Grundlagenwissen, das über die höhere Schulbildung hinausging, besaß er auf diesem Gebiet nicht.

Ein warmer, wohliger Luftstrom aus der Decke empfing Ricardo, als er von der feuchten, kühlen Straße durch die automatisch öffnende Schiebetür in sein Stammcafé trat. Es roch nach frisch gebackenen Brötchen, sortenreinem, kräftig geröstetem Kaffee, aromatisiertem Sirup, nach Putzmittel und ein wenig nach nassem Hund.

Sehr gedämpfte elektronische Musik kam von irgendwo her und die wenigen anwesenden Gäste unterhielten sich leise. Der kleine quadratische Tisch in der verglasten Ecke mit Blick auf das quirlige Stadtleben war frei. Er stopfte seinen Schal zwischen sich und die blau gepolsterte Rückenlehne der Sitzbank, zog das Tablet aus der Jacke und verband es mit dem Router des Cafés.

»Hi Ric, siehst müde aus. Kleines Frühstück und einen Doppelten zum Aufwachen?« lächelte ihn Tahri wie frisch aus dem Frühstücksei gepellt an.

Tahris androgynes und stets gepflegtes Äußeres machte es nahezu unmöglich, sich ohne fremde Hilfe für ein angemessenes Pronomen zu entscheiden. Das spielte aber keine Rolle, denn sein oder ihr natürlich sympathisches Wesen sorgte schon bei der ersten Begegnung dafür, dass man sich hier willkommen und wie zu Hause fühlte. Deshalb, aber noch mehr wegen der hervorragenden Küche, verbrachte Ricardo hier eine Menge Zeit. Er versuchte, so unangestrengt wie es ihm gerade eben möglich war, zurückzulächeln und nickte zustimmend.

In Ricardos Kopf stapelten sich neue, nie zuvor gehörte oder verstandene Begriffe, fielen um, sammelten sich in kleinen, augenscheinlich thematisch zusammengehörigen Grüppchen, trennten sich wieder, um neue Banden zu bilden, wie Teenager in den weniger gut einsehbaren Ecken eines Problembezirk-Schulhofs und vermischten sich schließlich mit den teils absurden Bildern aus den Träumen der vergangenen Nacht. Eine Liste mit Firmenbezeichnungen, die er unmotiviert auf und ab scrollte, verblasste langsam vor seinen Augen, wurde immer unschärfer, während sein auf Hochtouren arbeitendes Gehirn versuchte, sie mit Formeln, Versuchsbeschreibungen, Tabellen, Zeichnungen und Diagrammen in Verbindung zu bringen.

Unzählige Bezeichnungen – Neuronale Netzwerke, Biophotonen, Blockchain, Kernfusion, Laser, Quantenverschränkung, Neutrinos, Gravitationswellen, Kapillartechnik, Wasserstoffantrieb, Tachyonen, Zeitdilatation, Plasma, Photovoltaik, Higgs-Boson, Raumenergie, Nanoröhrchen, Hydrinos, Supraleitung, Levitation, Supersymmetrie und viele mehr – warteten darauf, verstanden, sortiert, strukturiert, bewertet, mit den zugehörigen Projekten verknüpft oder wieder verworfen zu werden. Ricardo ließ das Tablet sinken, seufzte, schloss kurz die Augen und sehnte sich nach etwas Ablenkung.

Die Dating-App zeigte zwei neue Matches. Seit Natalya weg war, suchte er auf diesem Weg gelegentlich etwas Nähe und Zerstreuung. Ein wirklich befriedigendes Gefühl wollte sich dabei aber nicht einstellen. Zu intensiv war die Zeit mit ihr, oft anstrengend, manchmal unerträglich, aber immer irgendwie bewegend. Ihre Unberechenbarkeit, ihr stürmisches Temperament und die Ungewissheit, in welchem emotionalen Zustand sie sich in der nächsten Minute befinden würde, waren Herausforderung und Nervenkitzel zugleich. In den Monaten vor der Trennung war es kaum mehr möglich, ein sinnvolles Gespräch zu führen. Jeder Versuch endete in einem heftigen Streit, meist gefolgt von einer ebenso heftigen Versöhnung.

Gewöhnlich war er es, der sich bemühte, die Wogen zu glätten, Fakten zu bewerten, mit hitzigem Gemüt getroffene Aussagen einzuordnen. Das machte Natalya aber oft nur noch wütender und früher oder später drehte sie sich mit einem lauten Du verstehst mich überhaupt nicht! um.

Ja, das war gut möglich, sogar wahrscheinlich. Ihm lagen Dinge, die sich sortieren ließen, an die man Zahlen schreiben konnte und die in sich selbst einen eindeutigen Sinn ergaben, einfach mehr. Das war seine Stärke: Strukturen schaffen, wo andere Menschen oft nur ein unüberschaubares Chaos sahen.

Ricardo beschloss, für die Auswahl von Investment-Kandidaten wie üblich Kategorien anzulegen und diese nach Wichtigkeit und Erfolgsaussichten zu ordnen. Als Leitfaden sollten zunächst wissenschaftliche Bewertungen dienen sowie eine Prüfung, ob vergleichbare Produkte oder Technologien bereits kommerziell erfolgreich waren. Oberstes Kriterium: Hat ein Produkt das Potential, die Welt nachhaltig zu verändern? Das war schließlich Masouds Vorgabe, nichts weniger.

»Na, bist du fleißig?«, hörte er eine vertraut klingende, freundliche Stimme über sich, während er lustlos in den Resten seines erkalteten Rühreis stocherte.

Marlen Bernstein arbeitete ebenfalls für Masoud und leitete die Verkaufsabteilung. Sie hatte ein unvergleichliches Talent, Menschen davon zu überzeugen, dass sie etwas brauchten und ihnen dabei das gute Gefühl zu geben, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Erwies sich ein Finanzprodukt als echter Ladenhüter, konnte man sicher sein, dass sie genau die passenden Kunden dafür finden würde. Man kannte und schätzte sie bis in die Führungsebenen der großen Finanzkonzerne.

»Hey, schön, dass du mich retten kommst!«, rief Ricardo erleichtert.

»Wird eine harte Woche für dich, habe ich gehört«, bemerkte Marlen, halb fragend, während sie den freien Bistrosessel vom Tisch wegzog und sich Ricardo gegenübersetzte.

»Was glaubst du, ist derzeit weltweit das dringendste Problem, das einer technischen Lösung bedarf?«, fragte er, ohne auf Ihre Vermutung einzugehen.

Marlen überlegte nicht lange und antwortete: »Klimawandel, Energieversorgung, CO2-Reduktion. Das beschäftigt derzeit die Anleger und Konzerne mehr als jedes andere Thema.«

Ricardo nickte zustimmend.

»Ja, das denke ich auch. Da müssen wir rein.«