Wenn ich mir als Kind den Kopf am Tisch gestoßen habe, war klar, dass der Tisch „böse“ ist. Ich habe dem Möbel eine Absicht unterstellt, mich schädigen zu wollen. Nicht nur bei unseren frühen Vorfahren, nein, auch heute ist der erste Impuls, wenn irgendwas passiert, dafür jemanden oder etwas verantwortlich zu machen.
Das kann ein Unwetter sein, mit dem die gerade moderne Gottheit die Menschheit strafen will, ein Ernteausfall, für den eine verfeindete Gruppe verantwortlich gemacht wird oder, als aktuelleres Beispiel, ein Erdbeben, das sicher von dunklen Mächten via HAARP-Hochfrequenzstrahlung ausgelöst wurde. Und die Corona-Pandemie kann nach dieser Denkweise nicht einfach eine Folge unglücklicher Ereignisse sein, sondern muss von böswilligen Akteuren absichtsvoll herbeigeführt worden sein.
Unser Steinzeitgehirn unterteilt die Umwelt in Akteure und Objekte. Akteuren wird eine Absicht unterstellt, Objekten nicht. Dabei müssen Akteure nicht unbedingt belebt sein. Unser Plüschtier etwa haben wir als Akteur wahrgenommen, vielleicht sogar mit ihm geredet, auch wenn uns klar war, dass es nicht lebendig ist.
Ein Blick in die Evolution zeigt uns, dass es durchaus vorteilhaft war, so zu denken. Wenn unsere Vorfahren zunächst davon ausgingen, dass das Geräusch im Gebüsch von einem Feind oder einem Raubtier stammt, war genug Zeit, um wegzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Jene Individuen, die zunächst untersuchen wollten, ob es sich nicht doch um eine harmlose Ursache handelt, hatten auf lange Sicht geringere Reproduktionschancen. Einen ähnlichen Effekt kennen wir bereits von der Pareidolie.
Heute sind wir anderen Gefahren ausgesetzt und könnten eigentlich kritischer im Umgang mit Ereignissen sein. Trotzdem ist unser erster Gedanke im Angesicht eines Unglücks oder gar einer Katastrophe nicht ein einfaches „Shit happens“, sondern „Das kann kein Zufall sein!“. Wir unterstellen also eine Absicht, eine Verschwörung, eine Absprache oder eben göttliches Handeln, wenn wir sonst niemanden zu fassen bekommen.
Für den Begriff „Hyperactive Agency Detection Device“ gibt es keine direkte deutsche Übersetzung, aber „Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit“ beschreibt das Phänomen durchaus korrekt. Der US-amerikanische Psychologe Justin L. Barrett hat sich damit beschäftigt, warum Menschen glauben und bezeichnet mit diesem Begriff einen Teil des Gehirns, der für diese Überwahrnehmung verantwortlich ist. Er weist außerdem darauf hin, dass es sich um eine angeborene Eigenschaft handelt. Wir erlernen dieses Verhalten also nicht.
Das kritische Denken ermöglicht es uns, dieses Verhalten zu erkennen, aber nicht, es zu vermeiden. Das genügt aber, um unsere Einschätzung von Ereignissen rechtzeitig zu korrigieren und zunächst zu prüfen, ob nicht doch natürliche oder harmlose Zusammenhänge dazu geführt haben und so die Entstehung von Verschwörungsmythen zu verhindern.
Auszug aus Ware Hoffnung, Kapitel 17 „Überzeugung“
Matthias Huber hatte schon seit einigen Jahren das unbestimmte Gefühl, dass jenseits der allgemeinen Wahrnehmung diskrete Aktionen geplant und ausgeführt wurden, ja, dass Dinge geschahen, große Dinge, die der breiten Öffentlichkeit verborgen blieben, dass dort geheime Absprachen und Bündnisse existierten, die, vorbei an allen demokratischen Regierungen, die Geschicke der Menschheit bestimmten. Der Moment, als er erwachte, wie er es nannte, ereignete sich kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Es gab einfach zu viele offene Fragen und zu wenige plausible Antworten. Wie konnte so etwas passieren? Wer steckte wirklich dahinter? Wer profitierte davon?
Das Internet war zwischenzeitlich so weit gediehen, dass ein reger Austausch mit Gleichgesinnten über alle Grenzen hinweg in Newsgroups und Foren möglich war. Eine Suche nach WTC oder 9/11 führte schnell zu Seiten, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigten. Dort wurden unscharfe Standbilder aus Nachrichtensendungen analysiert, mehrdeutige Meldungen interpretiert und Aussagen von Fachleuten und solchen, die sich dafür hielten, gesammelt. Schon bald ergab sich ein schlüssiges Bild: Die Mächtigen, die Eliten, steckten selbst hinter dem Terrorakt. Es ging darum, die Demokratie zu schwächen, Überwachungsmaßnahmen zu rechtfertigen oder die Geheimdienste zu stärken, da war man sich nicht vollständig einig. Vielleicht traf auch alles gleichermaßen zu.
Immer mehr Blogs und Foren kopierten diese Informationen, schmückten sie aus und spannen sie weiter. Ein ganzes Netz von vermeintlichen Verschwörungen kam ans Tageslicht und die ehrbaren Aufklärer bezeichneten sich als Wahrheitssucher, als Truther oder als Aufgewachte. Die große Masse der Menschen bestand für sie aus Schlafschafen, aus uninformierten Mitläufern, welche alles kritiklos glaubten, was in den Tagesnachrichten vorgetragen wurde.
Nun war Matthias Huber davon überzeugt, mit Hilfe seiner Mitstreiter herausgefunden zu haben, dass die Kondensstreifen, die sich hinter Verkehrsflugzeugen am Himmel bildeten, in Wirklichkeit aus Substanzen bestanden, welche wahlweise das Klima verändern, die Erde vergiften oder Gedanken manipulieren sollten. Unzählige Bilder von verwehten Dampffahnen überzeugten ihn davon, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches, atmosphärisches Phänomen handeln konnte, sondern um präzise verteilte, mit Hochfrequenzstrahlen kontrollierte Klimaveränderungsmaßnahmen.
Links:
JWinfo.de: Die Corona-Krise: Was Verschwörungstheorien und Kulte gemeinsam haben
SciLogs – Die Sankore Schriften: Hyperactive Agency Detection Device (HADD) und Natürliche Selektion
Wikipedia (en): Agent detection
NeuroLogicaBlog: Hyperactive Agency Detection
Kategorie: Kritisches Denken
Themen: Evolution, HADD, Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit, Verschwörungstheorien, Zufall