Vor einigen Jahren hatte ich mit einem wiederkehrenden Tiefton-Tinnitus zu kämpfen. Es klang, als stünde ein LKW mit laufendem Motor vor dem Fenster. Auf der Suche nach der Ursache habe ich die gesamte Umgebung abgesucht, um die Quelle des Geräuschs zu finden. Um es besser eingrenzen zu können, begann ich, verschiedene Schallmessungen durchzuführen, etwa mit einem Oszilloskop und mit einem Spektrum-Analyzer. Und tatsächlich, bei ca. 80 Hz war ein verdächtiges Signal zu erkennen. Dieses versuchte ich mit meinem Höreindruck abzugleichen, dessen Frequenz ich in eben diesem Bereich ermittelt hatte.
Erst viel später habe ich gelernt, dass das Geräusch im Innenohr entsteht. Woher kamen also die Messergebnisse? Ich habe sie einfach großzügig interpretiert und Artefakte oder atmosphärische Störungen für gültige Messwerte gehalten. Die Hoffnung, endlich die Ursache zu finden, hat meine sonst recht gut ausgeprägte Skepsis getrübt.
Eine ähnliche, aber deutlich weitreichendere Geschichte spielte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich ab. Der Physiker René Blondlot, Direktor des Physikalischen Instituts der Universität Nancy, experimentierte mit einem glühenden Draht in einem Eisenrohr und hoffte so, die Polarität von Röntgenstrahlen nachweisen zu können.
Dabei glaubte er eine Beobachtung zu machen: Schwache Lichtquellen, die vom Strahl seiner Vorrichtung getroffen wurden, schienen ihre Intensität zu verändern. So stellte er weitere Versuche mit der von ihm nach der Stadt Nancy benannten N-Strahlung an und entdeckte immer neue Zusammenhänge und Auswirkungen. Selbst die Intensität der Sehwahrnehmung des Auges schien von auftreffender N-Strahlung abhängig zu sein.
Schließlich veröffentlichte er seine Beobachtungen in einer angesehenen wissenschaftlichen Fachzeitschrift und machte so andere Forscher auf das Phänomen aufmerksam, die wiederum eigene Versuche anstellten und Blondlots Ergebnisse bestätigten.
Ebenfalls um die Jahrhundertwende wurden Röntgenstrahlung und Radioaktivität entdeckt. So lag es zunächst nahe, dass es auf dem Gebiet der Strahlungsforschung weitere Entdeckungen zu machen gab. Die Hoffnung, ebenfalls auf ein weltbewegendes Phänomen zu stoßen, trieb besonders in Frankreich zahlreiche Forscher an.
Es gab jedoch auch kritische Stimmen. Einige Physiker außerhalb Frankreichs konnten bei Replikationen von Blondlots Versuchen keine Effekte feststellen, was schließlich zu Mutmaßungen führte, nur Franzosen wären in der Lage, die minimalen, von der N-Strahlung hervorgerufenen Helligkeitsänderungen wahrzunehmen.
Schließlich nahm sich der US-amerikanische Experimentalphysiker Robert Williams Wood der Sache an und wohnte einem Experiment bei. Im Magazin Nature beschrieb er seine Vorgehensweise wie folgt:
The first experiment which it was my privilege to witness was the supposed brightening of a small electric spark when the n-rays were concentrated on it by means of an aluminium lens. The spark was placed behind a small screen of ground glass to diffuse the light, the luminosity of which was supposed to change when the hand was interposed between the spark and the source of the n-rays.
It was claimed that this was most distinctly noticeable, yet I was unable to detect the slightest change. This was explained as due to a lack of sensitiveness of my eyes, and to test the matter I suggested that the attempt be made to announce the exact moments at which I introduced my hand into the path of the rays, by observing the screen. In no case was a correct answer given, the screen being announced als bright and dark in alternation when my hand was held motionless in the path of the rays, while the fluctuations observed when I moved my hand bore no relation whatever to its movements.
Das erste Experiment, das ich beobachten durfte, war das vermeintliche Aufhellen eines kleinen elektrischen Funkens, wenn die N-Strahlen mithilfe einer Aluminiumlinse darauf konzentriert wurden. Der Funke wurde hinter einem kleinen Schirm aus Mattglas platziert, um das Licht zu streuen. Die Helligkeit sollte sich verändern, wenn die Hand zwischen den Funken und die Quelle der N-Strahlen gebracht wurde. Es wurde behauptet, dass dies sehr deutlich erkennbar sei, aber ich konnte nicht die geringste Veränderung feststellen. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass meine Augen nicht empfindlich genug seien. Um die Angelegenheit zu überprüfen, schlug ich vor, die genauen Momente anzukündigen, zu denen ich meine Hand in den Weg der Strahlen brachte, indem man den Schirm beobachtete. In keinem Fall wurde eine korrekte Antwort gegeben. Der Schirm wurde abwechselnd als hell und dunkel bezeichnet, wenn meine Hand regungslos im Strahlenweg verharrte, während die beobachteten Schwankungen, als ich meine Hand bewegte, keinerlei Beziehung zu ihren Bewegungen hatten.
Wood tat also, was ein guter Wissenschaftler tun sollte und führte eine Verblindung ein. Die Beobachter sahen nicht, ob und wie Wood seine Hand bewegte. Ein weiteres verblindetes Expermiment mit einem Prisma führte zu ähnlichen Ergebnissen.
Sein Fazit:
I am obliged to confess that I left the laboratory with a distinct feeling of depression, not only having failed to see a single experiment of a convincing nature, but with the almost certain conviction that all the changes in the luminosity or distinctness of sparks and phosphorescent screens are purely imaginary.
Ich muss zugeben, dass ich das Labor mit einem klaren Gefühl der Enttäuschung verlassen habe. Nicht nur, dass es mir nicht gelungen ist, ein einziges überzeugendes Experiment zu sehen, sondern auch mit der fast sicheren Überzeugung, dass alle Veränderungen in der Helligkeit oder Deutlichkeit von Funken und phosphoreszierenden Bildschirmen rein imaginär sind.
Nach dieser Veröffentlichung ließ das Interesse an N-Strahlen deutlich nach. Die meisten Wissenschaftler wandten sich von diesem Thema ab. Bereits zwei Jahre später erschienen keine weiteren Veröffentlichungen mehr dazu.
Es ist leicht, der Versuchung zu verfallen, gewünschte Ergebnisse zu bevorzugen. Eine fehlende Verblindung bei Expermimenten begünstigt diesen Effekt.
Bei Blondlot und vielen seiner Kollegen hat der Bestätigungsfehler zugeschlagen, die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen.
Auszug aus Ware Hoffnung, Kapitel 18 „Kompetenz“:
»Klare Sache«, meinte Ricardo. »Aber so was wird unter Wissenschaftlern kaum vorkommen.«
»Sag das nicht!«, widersprach Ragnar. »Es gab einen interessanten Fall in Frankreich, um 1900. Ein Physiker in Nancy hatte einige Versuche angestellt und dabei scheinbar eine geheimnisvolle Strahlung entdeckt. Einige Zeit zuvor hatte man in Deutschland die Röntgenstrahlung erforscht und der Ehrgeiz in anderen Ländern war groß, dieser eine ebenso bahnbrechende Entdeckung entgegenzustellen. Dieses N-Strahlung genannte Phänomen wurde also umfangreich untersucht, viel darüber geschrieben, Hypothesen aufgestellt und überprüft und man kam zu allerlei Ergebnissen. Einen Haken gab es allerdings: Die Strahlung ließ sich nur mit dem Auge erkennen, als leichtes Glühen eines speziellen Detektors. Noch erstaunlicher: Nur französische Wissenschaftler waren in der Lage, diesen optischen Effekt wahrzunehmen. Diese schlossen daraus, dass Kollegen aus anderen Ländern offensichtlich nicht über die notwendige Sehkraft verfügten.«
Ragnar machte eine kurze Pause, um Ricardos verwirrten Blick zu genießen.
»Schließlich schaute sich ein amerikanischer Wissenschaftler die Angelegenheit an, um für ein großes Wissenschaftsmagazin darüber zu schreiben. Dieser verfügte über einige Erfahrung im Debunking, also darin, augenscheinlich unerklärliche Phänomene zu entzaubern. Mit einem Trick klärte er das Rätsel auf: Ein im Messaufbau befindliches Prisma drehte er so, dass die anwesenden französischen Kollegen eine Veränderung am Detektor hätten erkennen müssen, sofern es sie denn gab. Schließlich entfernte er das Prisma heimlich, was aber nichts an der Erkennungsrate änderte. Die ganze Sache war demnach eine große, kollektive Selbsttäuschung. Wunschdenken.«
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